16.30-17.15   Inke Arns: "Kollektive Überidentifizierung und Retroavantgarde der Schwerelosigkeit. Laibach und Kosmokinetisches Kabinett Noordung (Neue Slowenische Kunst [NSK]) 1980-2045"  
  Das 1984 in Ljubljana gegründete Künstlerkollektiv 'Neue Slowenische Kunst' (NSK) hat mit der Musikgruppe 'Laibach' (*1980), dem Malerkollektiv 'Irwin' (*1983), der Grafikabteilung 'Neuer Kollektivismus' und der Tanz- und Performancegruppe 'Kosmokinetisches Kabinett Noordung' eine der wohl pointiertesten künstlerischen Theoriepraxen des Kollektiven im 20. Jahrhundert formuliert.

Kosmokinetisches Theater Roter Pilot (NSK), Observatorium Zenit, Ljubljana 1988

Während 'Laibach' in den 1980er Jahren in seinen Bühnenperformances das Trauma der ästhetischen Affizierung durch totalitäre Ideologien mittels seiner Strategie der "Überidentifizierung" mit der verdeckten Kehrseite der Ideologie physisch nachvollziehbar machte, also gerade nicht rational-erklärend, sondern durch Wiederholung des kollektiv-exzessiven Geniessens, begibt sich das 'Kosmokinetische Kabinett Noordung' seit Ende der 1990er Jahre unter Führung seines Regisseurs Dragan Zivadinov in den Zustand kollektiver Schwerelosigkeit. Auf den Spuren des slowenischen Raumfahrtpioniers Hermann Noordung (nach dessen Vorbild Arthur C. Clarke seine rotierende Raumstation in 2001 modellierte) testet das Kollektiv zunächst in erdnahen Parabelflügen, was zukünftig, dem orbitalen Zeitalter angemessen, in einem auf einer geostationären Umlaufbahn angesiedelten Observatorium stattfinden wird: die Wiederholung des Dramas Noordung 1995-2045 in zehnjährigen Intervallen. Die durch einen Vertrag bis an ihr Lebensende zur Teilnahme verpflichteten SchauspielerInnen werden nach ihrem jeweiligen Tod durch robotische Symbole ersetzt, die, jeweils mit Klang und Rhythmus ausgestattet, an der Stelle der menschlichen Darsteller agieren. Die schon in früheren Aufführungen ansatzweise vollzogene Aufhebung der Trennung von Akteuren (Bühne) und Publikum (Zuschauerraum) wird in der Schwerelosigkeit total. Die Einlösung des utopischen Anspruchs mündet nicht in Freiheit, sondern schlägt hier unvermittelt in eine unerträgliche, weil totale/totalitäre Kontrolle des Raumes und der Körper durch den 'Großen Lehrer-Astronauten' Zivadinov um. Die NSK identifizierte sich in den 1980er Jahren nach ihren eigenen Worten mit den historischen Avantgardebewegungen zum Zeitpunkt ihrer Usurpation/Assimilation durch totalitäre Systeme: "Neue Slowenische Kunst - as Art in the image of the State - revives the trauma of avant-garde movements by identifying with it in the stage of their assimilation in the systems of totalitarian states. The most important and at the same time traumatic dimension of avant-garde movements is that they operate and create within a collective. Collectivism is the point where progressive philosophy, social theory and the militarism of contemporary states clash." (Eda Cufer / Irwin: NSK State in Time 1993) Utopische und kollektiv(istisch)e Züge der historischen Avantgarden erlaubten eine hohe Anschlussfähigkeit / einfache Verschaltung von Avantgarde und Totalitarismus. Diesem von der NSK als traumatisch erfahrenen Moment des Umschlagens genuin utopischer in totalitäre Ansätze widmet sich sowohl die Arbeitsmethode der Retroavantgarde als auch die - vor allem von 'Laibach' entwickelte - Strategie (besser: Taktik) der Überidentifizierung. Das 'Kosmokinetische Kabinett Noordung' steht in den 1990er Jahren vielleicht noch stärker als 'Laibach' für eine Strategie der Überidentifizierung, also einer dekonstruierenden Identifikation/Wiederholung, deren paradoxe zeitliche Ausrichtung rückwärtsgewandt und antizipierend zugleich ist (Retroavantgarde). http://www.v2.nl/~arns/Texts/NSK/abstr-kollkoerper.html


Gledalisce Sester Scipion Nasice [Theater der Schwestern Scipio Nasicas], Krst pod Triglavom (Taufe unter dem Triglav), Cankarjev Dom, Ljubljana 1986



Inke Arns, M.A., Studium der Osteuropastudien, Politikwissenschaften und Kunstgeschichte in Berlin und Amsterdam; wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Ostslawische Literaturen und Kulturen Humboldt Universität zu Berlin. Sie ist freie Kuratorin für Medienkunst, Gründungsmitglied des translokalen Syndicate Netzwerkes (*1996) und des Berliner mikro-Vereins zur Pflege von Medienkulturen (*1998) http://www.mikro.org. Zahlreiche Publikationen zur Netzkultur und Netzkunst u.a.: Netzkulturen 2001 (Reihe Rotbuch 3ooo) http://www.v2.nl/~arns.


Links: RETROAVANTGARDE, ÜBERIDENTIFIZIERUNG, NSK Inke Arns: Mobile States / Shifting Borders / Moving Entities. The Slovenian Artists' Collective Neue Slowenische Kunst. In: Irwin: Three projects: Transnacionala, Irwin Live, Icons. Centre for Contemporary Art Ujazdowski Castle. Warschau 1998, S. 59 - 76 [English] http://www.v2.nl/~arns/Texts/NSK/finale.htm

LAIBACH http://www.ljudmila.org/embassy/3a/3a.htm
http://www.laibach.nsk.si/

NSK STAAT IN DER ZEIT (NSK DRZAVA V CASU) The Official NSK Electronic Embassy http://www.ljudmila.org/embassy/

KOSMOKINETISCHES KABINETT NOORDUNG Theater der Schwestern Scipio Nasicas (1983-87) http://www.ljudmila.org/embassy/4a/1.htm Kosmokinetisches Theater Roter Pilot (1987-1990) http://www.ljudmila.org/embassy/4a/pilot.htm Kosmokinetisches Kabinett Noordung (1990 - 2045) http://www.ljudmila.org/embassy/4b/4b.htm

HERMANN NOORDUNG Hermann Noordung: "Das Problem der Befahrung des Weltraums". Wien 1993 [Reprint der 1929 in Berlin erschienenen Originalausgabe]. Vorwort zur ersten vollständigen englischen Übersetzung von 1995: J.D. Hunley: Preface. In: Hermann Noordung: "The Problem of Space Travel: The Rocket Motor". Edited by Ernst Stuhlinger and J.D. Hunley with Jennifer Garland. Washington, D.C.: NASA SP-4026, 1995 http://www.hq.nasa.gov/office/pao/ History/SP-4026/preface.html. Vgl. auch Frederick I. Ordway III: Foreword. Ebd. http://www.hq.nasa.gov/office/pao/History/SP-4026/foreword.html. Die vollständige englische Übersetzung von Noordungs "The Problem of Space Travel: The Rocket Motor" befindet sich unter: http://www.hq.nasa.gov/office/pao/History/SP-4026/contents.html